Begreifen und dann den Frieden feiern
Schulprojekt in Ysselsteyn
Von Christiane Deuse (Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge)
Eine Anhöhe im Herbst, der Himmel voller Fallschirme. Eine Schleuse im Winter, vier Tunnel im Deich voller frierender, hungernder Menschen. Eine Stimme, die bricht, als sie davon erzählt … In den Niederlanden bekommt der Zweite Weltkrieg für Gymnasiasten aus Baden-Württemberg scharfe Konturen.
Als die 17- und 18-Jährigen aus Bad Saulgau die Blockhäuser der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte (JBS) Ysselsteyn beziehen, ist ihnen das Thema Zweiter Weltkrieg längst vertraut. Sie kennen die Bücher aus ihrer Heimatstadt, die die Erinnerungen an den Krieg festhalten – schließlich hat die Arbeitsgruppe, die sie herausgegeben hat, den Kontakt zu ihrer Schule geknüpft.
Die Jugendlichen haben den Seminarkurs zu 80 Jahre Weltkriegsende gewählt. Er erspart ihnen am Wirtschaftsgymnasium Helene-Weber-Schule womöglich eine Abiprüfung. Amelie und Jonas, Liam, Leonie und all die anderen haben daheim eine Stadtführung gemacht und sich lokale Themen ausgesucht wie jüdisches Leben, Zwangsarbeiter, Sportvereine, Flüchtlinge aus Schlesien, französische Besatzung. Sie haben im Stadtarchiv Quellen ausgewertet und Zeitzeugen befragt – Spurensuche zu einem Krieg, der weit weg von Bad Saulgau tobte.
Jetzt sind sie hier. Erstes Ziel: die Kriegsgräberstätte nebenan. „Silent Walk“ steht im Programm, doch Stille anzuordnen, ist überflüssig. „Das ist überwältigend, wenn man in der Ferne nur noch das Grau der Kreuze sieht. Man denkt: Jetzt muss es aber zu Ende sein. Aber es geht weiter und weiter“, sagt Darja später.
32.000 Gräber sind es, erfahren sie von Jan Heemels, dem pädagogischen Mitarbeiter. Und sind schockiert, als sie hören, dass der Zweite Weltkrieg im Durchschnitt jeden Tag etwa so viele Tote gefordert hat, wie hier bestattet sind. Noch etwas erschüttert sie: das Grab eines Kindes, nur einen Tag alt. „Das hat mir bewusst gemacht, wie schlimm das wirklich war“, sagt Darja.




Es gibt noch weitere solcher Momente. Auf dem kanadischen Soldatenfriedhof in Groesbeek zum Beispiel – auf der Anhöhe, auf der bei der „Operation Market Garden“ Im September 1944 die Fallschirme und Lastensegler landeten. Hunderte Augenpaare blicken die Gruppe dort an.
„Faces to Graves“ heißt die Initiative, die zu möglichst vielen der 2.600 Toten Fotos und Informationen sammelt. Dort sind auch die Kanadier begraben, die an der Schleuse, am Deich bei Kekerdom, bei der Rheinoffensive im Februar 1945 für die Befreiung der Niederlande ihr Leben gaben. Viele kamen aus armen, kinderreichen Familien, waren wegen des Solds Soldaten geworden. Hatten 25 Dollar, Monat für Monat nach Hause geschickt.





In Kekerdom ist es Belle Driessen, die die Tragik des Krieges noch ein Stück greifbarer macht. Sie ist Besatzungskind, hat ihren kanadischen Vater erst nach 50 Jahren kennengelernt. Das ist jetzt 30 Jahre her und noch immer kommen ihr beim Erzählen die Tränen.
So tief geht der Schmerz heute noch? Yasin ringt selbst um Fassung, als er das sieht. „Herzzerreißend“ schreibt er am Abend auf eine kleine Schiefertafel, als es darum geht, diesen Tag auf den Punkt zu bringen.
Sie sehen, hören, erleben noch viel mehr, besuchen das Freiheitsmuseum Groesbeek und das ehemalige Durchgangs- und Straflager Herzogenbusch, heute National Monument Kamp Vught. Sie verarbeiten ihre Eindrücke in einer Schreibwerkstatt, beim Malen, beim Fotografieren für eine Collage.
Dabei begleiten sie Markus Barg-Rothmund, ihr Lehrer, und die treibenden Kräfte der Saulgauer Arbeitsgemeinschaft SLG. „Spuren lebendig gemacht“ heißt das eigentlich. Für das Schulprojekt wurde daraus „Sehen – Lernen – Gedenken“, denn den Spuren soll auch jemand folgen.






Mary Gelder gehört zum Team, die Leiterin des Stadtarchivs, die Künstlerin Anca Jung, der Liedermacher Michael Skuppin und Conny Scheck aus Saulgau, die heute in Kekerdom zu Hause ist.
Der Cousin ihrer Mutter ist in Ysselsteyn begraben: Anton. 75 Jahre lang galt er in der Familie als vermisst. Als Conny Scheck sein Grab und die Gräber weiterer Saulgauer in Ysselsteyn fand, hatte das den Stein ins Rollen gebracht: Stadtgeschichte wurde und wird aufgearbeitet und auch denen vermittelt, die gerade nebenan Volleyball spielen.
Sie backen Stockbrot am Lagerfeuer, machen Radtouren, schippern mit dem Pfannkuchenboot durch Nijmegen. Und nehmen gerne das niederländische Motto dieser Tage rund um das Kriegsende vor 80 Jahren auf: „Den Frieden feiern“.
Von einem Schatz spricht Mary Gelder bei der abschließenden Runde. Einem „Schatz, der bei Euch einen Platz hat. Das wird wachsen und damit seid Ihr nicht allein.“ Das wissen sie, das war schon all die Tage zu spüren, in zahllosen Gesprächen, mit kleinen Gesten, auch im Schweigen.
Noch jemand nimmt einen Schatz mit nach Hause: Volksbund-Präsident Wolfgang Schneiderhan. Auch er ist in Bad Saulgau aufgewachsen. Er unterstützt und begleitet das Buch- wie das Schulprojekt mit großem Interesse. Nach zweitägigem Besuch sagt er: „Es ist unglaublich interessant, mit Ihnen hier zu sein. Das ermutigt mich für unser Engagement beim Volksbund und zeigt mir, dass wir richtig liegen mit unserer Arbeit.“


Zitate:
„Es liegt in unser aller Verantwortung, dass wir die Welt nicht mit neuen Kriegen kaputt machen und jedes Leben so schätzen, wie es ist.“ Yasin
„Wenn man hier steht, begreift man, wie viele eigentlich gestorben sind. Es wird bewusster auf ganz andere Art. So viele waren kaum älter als wir, das gibt einen ganz bitteren Beigeschmack.“ Simon
22. Mai 2025